Greiz ist überall - Vorwort zur Masterthesis
Die ostdeutschen Klein- und Mittelstädte sind existenziell gefährdet. Die radikale De-Industrialisierung der Nachwendezeit hat über die wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen hinaus zu einer tiefen Sinnkrise geführt, die vielerorts als kollektive Depression erfahren wird. Negative Demografie und rapider Verlust öffentlicher Infrastruktur beschleunigen die Abwanderung. Eliten, Kreative und Junge gehen zuerst. Die Mehrheit unserer Architektur-Student_innen haben diese Entwicklungen im eigenen familiären oder örtlichen Umfeld erfahren und Eindrücke von Chancenlosigkeit und Zukunftsskepsis verinnerlicht. Ihr Blick geht in die Großstädte, die verstärkt Zuzug erfahren. Kaum jemand reflektiert die kleinstädtischen und ländlichen Kontexte, - nicht als Heimat und auch nicht als Gestaltungsaufgabe für Städtebauer und Architekten.
Anders Simon Korn und Markus Wiese. Beide kamen aus Norddeutschland zum Studium nach Leipzig und betrachten den räumlichen Kontext ihres Studienortes unvoreingenommen, mit neugierigem Blick und Schaffenslust. Sie erfreuen sich an der topografischen Kraft und baulichen Schönheit der Stadt Greiz und ihr ethnologisches Interesse reicht von der rechtsnationalen Hetze im örtlichen Döner-Imbiss, über die Wunschorte ihrer 133 lokalen Facebook-Freunde bis hin zu den wundersamen Aussagen von Politik und Verwaltung im Bürgermeisteramt.
Für ihre Arbeit "Greiz 2046 - 7 Setzungen für die Zukunft"gründeten sie ein temporäres Greiz-Labor, indem sie den Ort auf unkonventionelle Weise beobachteten und erkundeten. So bildet sich eine andere Datenlage ab, als die statistischen Landesämter erfassen und der kommunalen Stadtplanung zur Verfügung stehen. Für das Labor haben sich Simon Kornund Markus Wiese Instrumente und Methoden geschaffen, die es erlauben, sachliche Daten und exaktePlanunterlagen sowie hypothetische Aussagen zur Entwicklung von Greiz und poetisch-atmosphärische Bilder zu kombinieren und zu überlagern.
So sind in dieser Publikation den "7 Setzungen für die Zukunft" ein Auszug der Beobachtungen unter den Titeln Metaberg, Spurensuche und Greiz-Atlas vorangestellt. Die Zusammenstellung von Logbuch-Eintragungen, historischen Ansichten, Facebook-Fragerunden, fotografischen Studien und Interviews beruhen auf den intensiven Erfahrungen vor Ort, die während mehrerer Aufenthalte und Spaziergängen durch die Stadt gesammelt wurden. Die bewusst subjektive "Vermessung der Welt" im Greiz-Atlas will "Sehnsucht- und Schlüsselorte der Vergangenheit und Zukunft" erfassen. Mit den Prognosen zur Zukunft der räumlichen Konzentration sowie ihren Thesen zu den Raumpotenzialen erfassen die Autoren konsequent einen von anderen Räumen und Grenzen geprägten Stadtkörper als der örtliche Stadtentwicklungsplan.
Die nachfolgenden Gestaltungsvorschläge evozieren andere Orte und Bilder, als das traditionelle Selbstverständnis der "Perle des Vogtlands" erwarten lässt. Gleichwohl bewegen sich die übergeordneten Entwicklungsziele nicht im theoretisch Visionären, sondern beweisen in ihrem konventionellen Ansatz und ihrer Realisierbarkeit zugleich eine Verbindlichkeit gegenüber dem Ort und den Menschen. Wenn es um die Konzentration auf die historische Kernstadt, Schutz und Entwicklung der stadtnahen Landschaftsräume oder Nutzung des Fluss-Potenzials geht, sind die konkreten Projektvorschläge jedoch nicht in erster Linie von den üblichen Fördertöpfen des Stadtumbaus und der Wirtschaftspolitik her gedacht, sondern reagieren auf individuelle räumliche und soziale Potenziale. Die spannungsvoll-bildhaften Titel der sieben Setzungen vom "Flusshotel" und "Bergschnitt" bis zur "Neustadtlandschaft" lassen erkennen, dass die Interventionen nicht vordergründig auf die Erhöhung des lokalen Konsumangebots im Einzelhandel oder Dienstleistungsbereich zielen, sondern identitätsgebende Ortsqualitäten weiterentwickelt und neue Raumsetzungen vorschlagen werden, welche die Stadt attraktiver und nachhaltiger machen.
Vermutlich werden auf Grund des drohenden Klimawandels, dem Wunsch nach gesunder, regionaler Ernährung und kohlenstofffreier Produktion die ostdeutschen ländlichen Räume und Mittelstädte auf längere Sicht wieder neue Aufgaben als Lebens- und Wirtschafträume bekommen. Bis dahin gilt es, die vorhandenen Strukturen so gut es geht zu qualifizieren, und die lokale Bevölkerung an diesem "qualitativen Wachstum" partizipieren zu lassen und so auch jüngere Generationen vor Ort zu binden.
Simon Korn und Markus Wiese machen mit ihrer Master-Arbeit "Greiz 2046 - 7 Setzungen für die Zukunft", die wir 2014/2015 an der Fakultät Architektur und Sozialwissenschaften HTWK Leipzig betreuen konnten, methodisch wie entwurflich einige bemerkenswerte Vorschläge, die nicht nur für Greiz zukunftsweisend sein könnten. Vielleicht gelingt es, einzelne Vorschläge aufzugreifen und zu implementieren. Es wäre dieser liebenswerten Stadt zu wünschen.
Annette Menting und Ingo Andreas Wolf
A.I.L. Architektur-Institut Leipzig, HTWK Leipzig
Professur Baugeschichte und Baukultur
Professur Städtebau und Entwurf
GREIZ 2046 - 7 Setzungen für die Zukunft [PDF]
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